Attraktion und Repulsion, am Beispiel eines Traumes von Sigmund Freud

(vergl. Thomas Cremanns, „Attraktion und Repulsion am Beispiel eines Traums von Sigmund Freud“, in: „Somnium Novum, Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie Vol. II“, Hrg. Rudolph Heinz, Karl Thomas Petersen, Wien, 1994, Seite 87-114, hier überarbeitet und gekürzt.)



Zu Beginn imponiert nach Tiefschlaf oder traumlosem Schlaf die "große Halle" als Koordinatensystem des Traumeinschlags: naturwissenschaftlicher Raumeinbruch - Simulation.
Sodann die durch einige Warteschleifen unterbrochene Zufahrt auf Irmas Hals (Fensterszene).
Hier nun erfährt die Fokussierung auf Irma neue Belebung (Attraktion) in Form eines genau beschreibbaren, eigentlich ersten Hervortretens äußerer Merkmale Irmas ("bleich und gedunsen"), die auch den Traum sogleich wieder zurückschrecken lassen (" ... ich denke, am Ende übersehe ich da doch etwas Organisches").
Dies Organische gelte als Sprache gewordener Ausdruck eben obigen Hervortritts der äußeren, durchaus organischen Merkmale Irmas (Frau!) und weist auch bereits weit hinaus auf das Ende unseres Traumes, auf die Formel "Trimethylamin".
Gemeint ist hier die Zusammenschnürung des sexuellen Körpers Irmas ebenso wie die des Analytikers (" ... es schnürt mich zusammen") auf dessen Rationalisierung (" ... ich denke") hin.
Insbesondere will hier der Vorgriff auf den ja noch tiefer in den Körper der Patientin vordringende ALL-Blick Freuds interessant erscheinen, denn, da der Traum ja nicht umhin kommem wird Freud als 'Witwentröster' ("Meine Patientin Irma ist eine jugendliche Witwe.") mit dem 'Röntgen-Blick' ("Trotz des Kleides") zu parodieren, findet sich hier bereits der dem Traum immanente Telos aller nun folgenden Handlungen Freuds ausgedrückt:
die Entmaterialisierung des sexuellen Körpers Irmas über die Diagnose durch den ärztlichen `Röntgenblick' zur bloßen Formelhaftigkeit der `Lösung' hin, welch humorische Selbstparodie Freuds und der ethisch damit ja wohl unstrittigen Anfänge der psychoanalytischen Kur.
An dieser Stelle könnten sich dem Kenner von Fraktalen durchaus auch beabsichtigte Konstruktionsparallelen zwischen diesen mathematischen Gebilden und der hier vorgebrachten Traumarbeitsanalyse aufdrängen, da sich hier in kleinstem, mittlerem sowie größtem Maßstab immer stets aufs neue eine selbstähnliche, mikroskopische Traumstruktur herauszuarbeiten scheint.

Um dies eingehender zu verdeutlichen, möchte ich ein Detail herausgreifen: "Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals".
Will man an dieser Stelle Gewicht auf das Fensterglas als Spiegelfläche legen, so ergäbe sich unter dem Paradigma der hier eintretenden narzißtischen Zuspitzung des Sich-selbst-Sehens Freuds in der Spiegelfläche des Fensterglases die zwingende Notwendigkeit für den Traum, um den direkten Kollaps überhaupt noch verhindern zu können, Irma quasi zwischen Freud und die Spiegelfläche zu postieren, was allerdings, will man das Fenster als Lichtquelle zum Zwecke einer besseren Untersuchungsmöglichkeit ansehen, aufgrund dieser Positionierung der Figuren (Irma mit dem Rücken zum Fenster, Freud mit dem Gesicht dem ihren zugewandt) wenig Sinn zu haben scheint, da Irmas offener Mund in diesem Fall wohl gänzlich im Schatten liegen müßte.
Dies gilt jedoch nur für den Fall einer Gesellschaft, die Freud bei Tageslicht gegeben hätte. Sollte es sich, was wahrscheinlicher wäre, hier um eine Abendgesellschaft gehandelt haben, wäre unser Traum in diesem Falle, unterstellt man, daß Freud wohl etwas größer war als Irma, noch keineswegs der Gefahr entkommen, sich selbst, qua Freuds Blick über Irmas Kopf hinaus auf sich selbst im Fensterglas, mit sofortiger Wirkung zum Einschlag des Erwachens zu katapultieren.
Auch wäre es in dieser Positionierung Freud möglich, Irma sowohl von vorne als auch ihren Rücken zu betrachten, was als deutliches Indifferenzierungsansinnen dem Fortgang dieses Traumes auch alles andere als förderlich hätte sein müssen.
Doch eine weitere Möglichkeit der Positionierung drängt sich an dieser Stelle auf, aber bevor wir ihr folgen wollen, möchte ich noch einmal kurz zusammenfassend den bisherigen Fortgang der Annäherung Freuds an Irmas Hals in all seiner zurückschreckenden Anhänglichkeit erläutern, also die Darstellungsformen jener repulsiven Elemente nennen, die unserem Traum das Weitergehen an diesen Stellen ermöglichten, Rückschreck- und Annäherungskreise zugleich also:
Am Fenster dürften sich die Lichtverhältnisse bei einer Abendgesellschaft als ziemlich finster erweisen. Der Traum weicht vor dem Blick in Irmas Hals aus und zwar, wenn man so will, ins dämmerige Séparée, findet sich an dieser Stelle jedoch sofort der überstarken Attraktion der spiegelnden Glasfläche ausgesetzt.
Hier könnte er ohne obigen Spiegeltanz Freuds mit Irma, wobei ich Sie bitten möchte, die noch folgenden Positionierungen der beiden Tänzer des Begehrens möglichst szenisch vorzustellen, die benötigte Spannungsbrücke zwischen Repulsion und Attraktion unmöglich aufrechterhalten, insbesondere in Anbetracht des Sträubens Irmas sich überhaupt in den Hals schauen zu lassen, was wohl leicht wiederum als Repulsion erkennbar sein dürfte.
Doch zurück zu unseren Positionierungsproblemen. Die zweite mögliche Aufstellung Freuds und Irmas vor dem Fenster wäre also wie folgt vorstellbar:
Freud mit dem Rücken zum Fenster, Irma ihm gegenüber mit dem Rücken zur restlichen Abendgesellschaft. Eine durchaus günstige diagnostische Konstellation, wäre da nicht Freuds Schatten, der ihm die Sicht in Irmas Hals durchaus verschleiern würde, selbst wenn es genügend Tageslicht gäbe, was wiederum wenig wahrscheinlich scheint.
Bei Nacht oder Abend stattdessen würde sich Freud zwischen Irma und ihr Spiegelbild stellen, sie würde also ihn in ihrem Spiegel sehen müssen, was wiederum der Auflösung einiger Repulsionsbarrieren am Rande des Erwachens gefährlich nahe kommen würde, insbesondere, da sie gar seinen Rücken bei einer leichten Drehung ihres Kopfes im Fensterglas ausmachen könnte.
Um an dieser Stelle die notwendige Kleinarbeit dieser Analyse noch einmal zu legitimieren, möchte ich Sie bitten, bei der szenischen Vorstellung der Positionierungen Ihrerseits stets mitzudenken, daß es sich bei diesen Spiegelfechtereien nur um absolut funktionale, einzig von dem Wunsche weiterzuträumen getragene Abbildungen des inneren Prinzips der Traumarbeit selbst handeln kann, die ich mir ja im Spiele attraktiver und repulsiver Kräfte vorzustellen versuche.
Als Bild für diesen Zusammenhang im Gegensatz zu der Traumerzählung Freuds könnte man an einen in zu großem Tempo ablaufenden Film denken, der die einzelnen Positionen der Aufstellung der beiden Personen vor dem Fenster in einem Durchlauf am Betrachter vorbeieilen ließe, einzig um die größtmögliche Nähe zum Traumziel zu wahren, ohne es direkt zu erreichen, es also elliptisch umkreisen zu können, oder kurz gesagt, um weiter träumen zu können.
Von Wunscherfüllung im klassischen Sinn sei hier allerdings keine Rede, was sich insbesondere auch wohl am Beispiel des Schattenwurfs Freuds auf Irmas Hals als Verschleierungsversuch (Repulsion) der "krausen Gebilde" (Attraktion) im Sinne klassischer Verhüllungsstrategien betreffs des neugierigen Sehens zeigen ließe.
Eine Verhüllungsfunktion gegen das attraktive Sehen übrigens, der wir später noch in Form von Irmas Kleid in sich quasi selbst wiederholender Weise noch einmal begegnen werden.
Als dritte beziehungsweise vierte Aufstellungsmöglichkeit verbliebe in unserem Trickfilm noch jene, die unsere Figuren beide seitlich zum Fenster positionieren würde, fraglos die beste und somit vom Traum sicherlich gewählte, weil die Gefahrenquelle Spiegelglas ebenso wie die des Anderen in diesen beiden Positionierungen eindeutig in der, dem Weiterträumen förderlichsten Art und Weise sowohl ein- als auch ausgeschaltet wären, sprich der Balanceakt zwischen Repulsion und Attraktion dem Traumziele des Erwachens/Weiterträumens gegenüber sich erneut stabilisiert fände.
"Der Mund geht dann auch gut auf...", wie man sich nach obigem Verfahren des Ausgleichs der Gegensätze wohl denken kann.
Allerdings nur, um unser Spiel auf einer weiteren Stufe fortlaufen zu lassen, jedoch in seiner Zuspitzung durchaus verschärft: "...anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgraue Schorfe".
Chancenlos wäre unser Traum hier an den 'krausen' Ecken und ver'schorf'ten Kanten des "Anderen der Vernunft" ("anderwärts", also auch zum absolut Anderen hin) hängengeblieben, denn weder zur völligen Geschlechtsindifferenz, wie wir ja oben sehen konnten, noch zur ausdrücklich visualisierten buchstäblichen Andersheit, die sich hier ja vehement zitabel macht, dürfte die Balance des sich selbst weiterträumenden Traumes führen.
Um nun also diese von "anderwärts" auf unseren Traum gerichtete Attacke abwehren zu können, braucht dieser maskuline Verstärkung: "Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt...".
Dies kann als eine quasi fraktale, wiederholende Miniatur der vorangegangenen Szene in dem Sinne verstanden werden, als daß hier die Untersuchung inklusive "anderwärts" noch einmal in Kurzfassung erscheint und durch ihre Bestätigung, wenn man so will in zwei weiteren Schleifen gefahren werden kann: "Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr, und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: Sie hat eine Dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides wie er spüre) ... ".
Was eben noch im Hals enden wollte, kann jetzt noch einmal äußerlich starten. Die Verschiebung über Otto zu Leopold als weitere Aufschubsschleife zu deuten fällt nicht schwer.
Insbesondere läßt sich hier Irmas Kleid (man vergleiche auch Freuds Schattenwurf in/auf Irmas Hals am Fenster) als Medium der Trennung des Sichtbaren vom Unsichtbaren, als verhüllende Form ihres Körpers nennen, dieses Kleid, das sich wieder balancierend auf schließlich der Schwelle des Sichtbaren befindet, und den Körper Irmas substituierend den Traum - vermittelt zwar, doch was will man verlangen, es wird schließlich geträumt - die süße Haut spüren lassen kann, ganz im Sinne unserer Schleifen der Balance, die, wie gesagt den Traum so lange als möglich aufrechterhalten wollen (Repulsion), wohlgemerkt um den Preis der spiralhaften Annäherung an das Erwachen (Attraktion).
In diesem Sinne erschiene jeder Traum als spiralig-trudelnder Absturz mit Warteschleifen auf das Erwachen hin. Mit Ausnahme der Psychose erwiese sich also die attraktive Kraft des Todestriebes stärker als die repulsive Warteschleife des Eros, worauf sich auch die These eines ubiquitären Narzißmus abbilden ließe, zumindest wohl auf das Gebiet primärprozeßualer Traumarbeit.
Der dem Traum inherente fraktale Charakter zeigt sich hier in der Autosymbolik gebrochener Selbstähnlichkeit, und zwar in Form ihrer Brüchigkeit, nämlich als durchstrichene Gleichheit, in sich selbst die Verschiedenheit (Spiegel versus Selbst, sowie Geschlechtsdifferenz), eben gerade den Bruch in der Jubilatorik der Selbstwahrnehmung als Spiegelidentifikation, die Ähnlichkeit als Ungleichheit eben, thematisierend.
Dies sollte noch einmal Licht auf das Dunkel einer Subjektkonstitution werfen, die gerade mit Blick auf die "différance" nun hier als erinnerungskonstituierendes Indiz des ähnlichen Nicht-Gleichen uns "anderwärts" zur Durchgestrichenheit des "Seins" zu führen im Stande ist.
Die Analyse dieses Spiegel-Film-Feldes in ihrer Ausführlichkeit diente mir also als Gegenzug zur, die Differenz auch zwischen Traum und Wachen verwischenden "Seinsvergessenheit" modernster Anwendungen der Chaostheorie.
Denn, und nun betreten wir noch einmal das zweite Feld der "krausen Gebilde", die uns wohl als weitere Autosymbolisierung fraktaler Struktur erscheinen wollen, gar als Fraktale selbst, dies "Medusenhaupt" (Lacan) imponiert doch geradezu als nicht weiter hinterfragbare "Spur" eines "Seins" in Heideggerscher Durchstrichenheit, des Chaos selbst nämlich.
Dieser "Grund der Dinge" kann nun allerdings auf der Deutungsebene des Traumes als selbstähnlichem Gebilde im Bezug zur Spiegelszene als fraktale Fortsetzung dieser deshalb firmieren, weil sich hier nun der soeben angemahnte Differenzbetrag der Selbstähnlichkeit innerhalb der Spiegelszene als das buchstäblich "Andere der Vernunft" einklagen will.
Da Freud nun aber an dieser Stelle der "leidenschaftlichen, sagen wir allzu leidenschaftlichen Forschung" (Lacan) den Vorzug vor dem Erwachen zu geben im Stande ist, muß, vermittelt über das "Clowntrio" (Lacan) all dies als "Dialog der Tauben" (Lacan) noch einmal Sprache werden, sich von der Ebene des Blickes folgerichtig auf die der Verlautung verschieben, muß schließlich Formel, "Trimethylamin", Schrift, gekennzeichnet durch die höchste Kunst der In-Eins-Bildung von Zahl und Wort werden, in höchster Zuspitzung quasi als Wissenschaftswitz ("denn fast ist das ein Witz" (Lacan)) die Autosymbolik des Erwachens, inklusive der Erinnerung bis hin zu deren Verschriftung, leistend.
Freuds Traum erschiene somit als exponiertes Beispiel sowohl von Übergangsstrategien der inneren Zuspitzung innerhalb eines Traumes auf das Erwachen hin, als auch fortgeschrieben in die Mitschrift der Erinnerung als bewegendes Beispiel menschlicher Autopoiesis, im Sinne allerdings einer psychischen Selbsthervorbringung menschlicher Subjektivität überhaupt, deren Konstitutionsprozeß bis ins kleinste Intervall als unendlich anzusehen, uns ja die fraktale Struktur dieses Traumes lehrt.
Doch nur wer entkommen ist, weil er erwachend, sprachlich widerstand, vermag eine Theorie von dem zu entwickeln, wovor er sich zu retten trachtete, denn Chaos ist der Rachen und zugleich das, was er verschlingt, Unort des Endes und der Schock des Nichtidentischen, dem das Ringen um Identität und Selbstsetzung einzig den Beginn der Sprache, ein Ordnen in Namen und Zahlen, inklusive deren heutiger Produktionsspitze Freudscher Psychoanalyse und wissenschaftlicher Technik-, Dingproduktion entgegen zu setzen weiß, folgend der Handlungsanweisung, die zur Entstehung des "Apfel-Männchens" führte:
Quadriere eine Zahl 'z' und addiere eine Konstante 'c', lasse möglichst viele Iterationen zu und betrachte die Selbstähnlichkeit der Ergebnisse...

Glücklicherweise wird man wohl auch weiterhin nicht umhin können, dem Traum als Referenzgrund philosophischer Rücksicht, schon aufgrund seiner allnächtlich sich unüberbietbar vollziehenden Attraktivität, den Vorzug vor technikvermittelten Cyber-Space-Unternehmungen geben zu müssen.


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